1.Mai 2022:
Liebe Freundinnen und Freunde
Liebe Unterstützende und Interessierte
Der 1. Mai ist der traditionelle „Tag der Arbeit“ und ein bedeutender Tag für uns alle, für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, selbständig Erwerbenden, für Menschen in Ausbildung, für Arbeitslose, Ausgesteuerte, Rentnerinnen und Rentner, also für alle, die arbeiten, gearbeitet haben und noch arbeiten werden.
Am 1. Mai steht die Arbeit und die Bedürfnisse und Anliegen der arbeitenden Menschen im Zentrum. Am 1. Mai geht um die gerechte Bezahlung der Lohnarbeit, aber auch ganz generell um mehr soziale Gerechtigkeit. Es geht um Solidarität, also um den Zusammenhalt der Menschen im Kampf für mehr Gerechtigkeit. Es geht aber auch um Frieden und Freiheit, die elementaren Grundlage, damit wir uns überhaupt für mehr Gerechtigkeit engagieren können.
Am 1. Mai geht es also um sehr viele Fragestellungen und Themen – rund um den Globus. Ich möchte heute den Fokus aber ganz auf unser Land richten, und dabei speziell auf den Kampf für soziale Gerechtigkeit in der Bildungspolitik. Schulbildung, der ausserschulische Erwerb von Kompetenzen und die Berufsausbildung bestimmen zu einem guten Teil, wieviele Chancen wir im Leben haben. Wenn wir also mehr Chancengerechtigkeit erreichen wollen, dann spielt die gesellschaftliche Gestaltung des Bildungs- und Ausbildungswesens eine Schlüsselrolle.
Sagen wir es in aller Deutlichkeit: Unser Bildungssystem ist ungerecht. Unser Bildungssystem ist ganz stark auf eine höhere Bildung, auf Universitäten und Hochschulen ausgerichtet. Hier hat die Schweiz in den letzten Jahrzehnten viele Milliarden Franken investiert. Das waren richtige und wichtige Investitionen. International konkurrenzfähige Bildungsinstitutionen sind für den Standort Schweiz enorm wichtig. Der Aufbau unserer aktuellen Landschaft an Fachhochschulen ist entscheidend, dass das Bildungssystem deutlich leistungsfähiger und vor allem durchlässiger geworden ist. Bei all diesen grossen Fortschritten ging aber ein wesentlicher Teil der Bildungslandschaft vergessen. Trotz Milliardeninvestitionen in die Bildung bewegte sich im nicht-akademischen Bereich deutlich weniger. Die Berufsbildung – gerade im gewerblichen und industriellen Bereich – wird vernachlässigt. Hier stehen keine grossen Reformen an, hier wird nicht investiert – obwohl die Schweiz doch so stolz auf ihr erfolgreiches System der Berufsbildung ist.
Das ist der Hintergrund weshalb unser Bildungssystem immer noch gravierende Mängel bei der Chancengleichheit aufweist. Jugendliche aus sozial schwächeren Familien – mit oder ohne Migrationshintergrund – aber auch Jugendliche aus strukturschwachen, sprich eher abgelegenen, ländlichen Gebieten sind benachteiligt. Sie alle sind auf ein starkes Berufsbildungssystem angewiesen, das ihnen attraktive und zukunftsträchtige berufliche Perspektiven bietet.
Um die Chancengleichheit in der Berufsbildung auszubauen braucht es eine Vielzahl an Massnahmen:
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Um Chancengerechtigkeit in der ganzen gesellschaftlichen Breite tatsächlich zu erreichen braucht es eine grundlegende Stärkung der Berufsbildung. Die Berufslehren müssen aufgewertet und gesellschaftlich noch besser anerkannt werden. Wir brauchen in der ganzen Schweiz mehr Lehrstellen – und Lehrbetriebe sollen bei ihrer Ausbildungstätigkeit verstärkt unterstützt werden. Zudem sind mehr Brückenangebote notwendig, in denen sich Jugendliche auf eine Berufslehre vorbereiten können. Die Stärkung der Berufsbildung muss zu einem eigentlichen Paradigmawechsel in der Bildungspolitik führen: Die einseitige Ausrichtung des Bildungswesens auf die universitäre Spitze muss abgelöst werden durch eine Politik, die die gesellschaftlichen Breite und die tatsächlichen Bedürfnisse von Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsmarkt viel stärker berücksichtigt. Nur so wird es uns gelingen, dass der Zugang zur Arbeitswelt, der Zugang zu beruflichen Zukunftsperspektiven für alle Menschen in diesem Land gewährleistet werden, und damit Chancengerechtigkeit endlich zu mehr als einer leere Worthülse wird.
Die Stärkung der Berufsbildung und damit der Kampf um mehr Chancengerechtigkeit ist eine unserer zentralen Herausforderungen. Ich lade alle gesellschaftlichen Kräfte dazu ein – und heute insbesondere auch die Linke und die Gewerkschaften –, sich für einen solchen bildungspolitischen Paradigmenwechsel zu engagieren.
Die aktuelle Situation wird zusätzlich überlagert durch die demografische Entwicklung. In den nächsten 10 Jahren werden rund eine halbe Million Arbeitnehmende mehr pensioniert als neu in den Arbeitsmarkt eintreten. Es ist mir unverständlich, wie angesichts dieser drohenden Lücke an Arbeitskräften Wirtschaft und Politik so untätig sein können. Es ist mir unverständlich, dass das enorme Potential derjenigen Menschen nicht gesehen wird, die bisher noch Mühe hatten, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden.
Im Schulsystem werden wesentliche Grundlagen dafür gelegt, ob und welchen Zugang ein junger Mensch zum Arbeitsmarkt findet. Das erste Ziel muss also sein, dass unsere Schülerinnen und Schüler unabhängig von persönlichen und sozialen Umständen wie Geschlecht, wirtschaftlichem Status der Eltern oder der nationalstaatlichen Herkunft möglichst gute Bildungschancen erhalten.
Wir haben in der Schweiz ein grundsätzlich leistungsstarkes Bildungssystem. Und trotzdem lassen wir viele Potentiale ungenutzt. Die soziale Chancengerechtigkeit hat in den letzten Jahren leider nicht zugenommen, sondern abgenommen. Das müssen wir ändern. Ein wichtiger Hebel dafür ist auf jeden Fall der Ausbau einer bedarfsgerechten Frühförderung in der ganzen Schweizund die flächendeckende Einführung von Tagesschulen für alle. So kann die Benachteiligung derjenigen Kinder reduziert werden, deren Eltern nicht die Ressourcen haben, ihnen bei Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitung Hilfe zukommen zu lassen. Die ungleichen Startvoraussetzung bei der Geburt werden für das ganze Leben zementiert, wenn wir in der Schule und in der Ausbildung nicht Gegensteuer geben.
Wenn es uns aber gelingt, die Frühförderung zu verstärken, die Tagesschulen weiter auszubauen und mit der Berufsbildung mehr Jugendlichen einen Weg in die Arbeitswelt zu ermöglichen, dann gelingt es uns, in unserem Land wieder mehr Menschen eine Zukunftsperspektive zu geben, eine Perspektive, dass sie durch ihre eigene Arbeit ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können.
Kurz: Ich bin überzeugt, in der Bildungspolitik liegt ein entscheidender Schlüssel, um unsere Gesellschaft gerechter zu gestalten.
Ich wünsche Euch allen einen schönen 1. Mai 2022.
Herzliche Grüsse
Mustafa Atici
Newsletter zum 1. Mai 2022