1. Mai 2021:
Liebe Freundinnen und Freunde
Auch dieses Jahr feiern wir den 1. Mai nicht so, wie es dieser Tag verdient. Gerade deshalb möchte ich meine Gedanken zu diesem Tag, sozusagen meine nicht gehaltene 1. Mai-Rede, schriftlich formulieren.
Für mich ist der 1. Mai der Tag, an dem ich Energie tanke. Am 1. Mai spüren wir die Kraft der Solidarität, wie an kaum einem anderen Tag des Jahres. Der 1. Mai gibt uns den Elan und die Zuversicht, die wir brauchen, um unseren Kampf gegen die viele Ungerechtigkeiten und Probleme weiterzuführen. Ich spüre, dass sich mein Kampfgeist für diejenigen Themen stärkt, für dich ich mich weiterhin einsetzen möchte. Und ich fühle mich durch die Unterstützung der vielen Freundinnen und Freunde bestätigt und ermutigt, die Dinge anzupacken.
Im Pandemiejahr haben viele Menschen unter sehr schwierigen Bedingungen gearbeitet, zu einem Lohn, von dem wir schon lange wissen, dass er zu niedrig ist. Ich denke da an das Pflegepersonal in den Spitälern, aber auch bei der Spitex und in den Alters- und Pflegeheimen. Hier muss unbedingt nachgebessert werden, substanziell und nachhaltig. Das Coronajahr hat zudem viele weitere Probleme sichtbar gemacht: Berufslernende ohne Praxis, Studierende ohne Nebenjobs oder die Lebenssituation von vielen Menschen, die für einen Lohn arbeiten, mit dem sich nicht wirklich überleben können.
Gegen die unverschämten Dumpinglöhne haben wir endlich ein konkretes und wirksames Gegenmittel: Am 13. Juni 2021 werden wir in Basel über die Mindestlohn-Initiative abstimmen. Es ist sehr wichtig, dass wir unbedingt an die Urne gehen und 2 x JA stimmen.
Am 13. Juni werden wir auch über andere sehr wichtige Vorlagen abstimmen, bei denen es um das Klima und um die Zukunft unserer Lebensgrundlagen geht. Ich empfehle unbedingt ein kräftiges JA zum «CO2-Gesetz». Zur «Trinkwasser-Initiative» und zur «Pestizid-Initiative» können wir mit gutem Gewissen auch JA sagen. Der Klimawandel und die Ausbeutung und Vergiftung unserer Lebensgrundlagen sind eine der grössten Herausforderungen in den kommenden Jahrzehnten überhaupt. Sie werden auf unser Leben einen ähnlich starken Einfluss haben wie der digitale Wandel auf unsere Berufswelt.
Wie und was wir künftig arbeiten, das ist eng mit dem sozialen und politischen Klima verknüpft. Wir brauchen dringend eine Stärkung unseres Bildungssystems, um die vielfältigen anstehenden Herausforderungen meistern zu können. Die Schweiz leidet unter einem grossen Mangel an Fachkräften. Das Problem wird noch immer über den Import von Arbeitskräften gelöst. Ich bin aber der Überzeugung, dass es sinnvoller ist, in diejenigen Menschen zu investieren, die bereits hier sind. Viele junge Erwachsene und viele ältere Arbeitnehmende erhalten nicht die notwendige Unterstützung, um sich im Arbeitsmarkt behaupten zu können. Wir riskieren, dass wir viele Jugendliche mit einer niedrigen Qualifikation haben, die ihr ganzes späteres Leben zu einem Lohn arbeiten müssen, der knapp am oder unter dem Existenzminimum liegt. Wir müssen mehr tun, um die Potenziale zu erkennen und auszuschöpfen. Kompetenzen entstehen, indem man sie bildet. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer Stärkung der Berufsbildung und in einer Stärkung der Chancengerechtigkeit.
Die Corona-Zeit zeigt uns schonungslos die Realitäten derjenigen Menschen, die ohne staatliche Unterstützung aus ihren prekären Lebensverhältnissen und ihren strukturellen Nachteilen nicht herauskommen. Wer noch immer nicht glaubt, dass die Herkunft und finanziellen Möglichkeiten der Eltern eine entscheidende Rolle für den eigenen Lebensweg spielt, dem kann ich folgendes Beispiel aufzeigen. In einem Radiointerview meinte ein Jung-FDP Präsident aus der Ostschweiz auf die Frage, woran er am meisten in der Pandemie gelitten habe, dass er sein Austauschsemester in den USA nicht machen konnte. Ich hätte ihm das Austauschsemester gegönnt, keine Frage. ABER! Andere Studierende hatten ganz andere Probleme: Ihre Nebenjobs, zum Beispiel in der Gastro- und Eventbranche gibt es nicht mehr. Die Eltern haben vielleicht kaum finanzielle Reserven, oder sind womöglich auf Kurzarbeit. Stipendien zu bekommen, ist je nach Kanton sehr schwierig. Diese Studierenden werden länger studieren müssen, sie sind später auf dem Arbeitsmarkt und sind in ihrem Lebenslauf benachteiligt, weil sie keine Studienaufenthalte oder spannende Praktika nachweisen können, weil sie ja nebenbei Geld verdienen mussten. Was für Studierende gilt, gilt auch für alle Arbeitnehmenden, die kaum eine Chance auf Nachhol- oder Weiterbildung haben.
Diese Ungleichheiten können wir nicht einfach hinnehmen. Eine Gesellschaft kann nur glücklich unterwegs sein, wenn die Arbeit von jeder und jedem gerecht und fair belohnt wird, und wenn auch diejenigen, die weniger Chancen haben, unterstützt werden und ihre Chance bekommen.
Wir sehen, auch in diesem Jahr gibt es wieder sehr viele Gründe auf die Strasse zu gehen. Wir werden den Kampf für mehr Gerechtigkeit weiterführen, bei uns und überall auf der Welt. Es gibt viel zu tun. Das ist unsere Welt und wir haben die Möglichkeiten etwas zu ändern und zu verbessern. Der 1. Mai ist der Tag, an dem wir Kraft für unseren Kampfgeist schöpfen. Wir werden nicht ruhen. Wir werden nicht aufgeben. Wir werden Erfolg haben.
Newsletter zum 1. Mai 2021