Liebe Freundinnen und Freunde
In den letzten 20 Jahren war ich an jedem 1. Mai mit Euch zusammen auf der Strasse. Der 1. Mai ist für uns einer der wichtigsten Tage im Jahr, ein Tag an dem wir nicht nur zeigen, wie wichtig Gerechtigkeit und Solidarität sind, sondern jedes Jahr von neuem mehr Respekt für diese Werte einfordern.
Dieses Jahr werden wir nicht auf der Strasse sein – und ich kann Euch nach der Demo auf dem Basler Barfüsserplatz auch kein Getränk servieren. Dabei wäre es doch jetzt besonders wichtig, dass wir zusammenstehen und lautstark mehr Gerechtigkeit und Solidarität fordern.
In dieser schwierigen Corona-Zeit wird vielen Menschen in diesem Land deutlich, wie wichtig Solidarität und Gerechtigkeit sind, um diese Krise zu überwinden. Viele Menschen mussten in dieser Zeit trotz grossen gesundheitlichen Risiken arbeiten, andere haben ihre Existenzgrundlage bereits verloren. Viele Menschen fürchten, dass sie in den nächsten Monaten ihre Arbeit verlieren. Natürlich, die Krise trifft uns alle, aber die Lasten dieser Krise sind sehr ungleich verteilt. Es trifft diejenigen viel härter, die über weniger Reserven verfügen, die eher am Rand der Gesellschaft stehen, und die bereits vor der Krise weniger privilegiert waren.
Wir können dieses Jahr am 1. Mai nicht auf der Strasse sein, dafür werden wir das ganze Jahr jeden Tag noch hartnäckiger für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen!
Von grosser Bedeutung ist der Kampf gegen den Rassismus: Der Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus dokumentiert, dass es in der Schweiz 2019 einen neuen Rekord an rassistischen Vorfällen gab. Rassismus zeigt sich am häufigsten bei Diskriminierungen in der Nachbarschaft, im Bildungsbereich und bei Kontakten mit der Verwaltung und der Polizei. Ich bin überzeugt, dass diese erschreckende Tendenz in den nächsten Jahren eher zu- als abnehmen wird. Wir sehen in der aktuellen Krise nicht nur sehr viel gelebte Solidarität, sondern auch viel Angst, Hamsterkäufe, Abschottung und bei vielen Menschen einen Reflex, dass das «Böse» von aussen komme, dass die «Anderen», die «Fremden» schuld seien. Dieser Tendenz müssen wir gemeinsam und entschlossen entgegentreten. Im Alltag, in der Nachbarschaft, in der Arbeitswelt, jeden Tag. Der gemeinsame Kampf für soziale Gerechtigkeit und für ein friedliches soziales Klima ist jetzt wichtiger denn je. Jetzt entscheidet sich, ob die Nach-Corona-Gesellschaft geprägt wird durch Rassismus, Nationalismus und Abschottung, oder ob es gelingt, die Solidarität und die Gerechtigkeit zu stärken.
Nächte Woche werden wir in der ausserordentlichen Session des Parlaments vor allem die finanziellen Auswirkungen der Corona-Krise diskutieren. Als Mitglied der nationalrätlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturkommission habe ich mich im April intensiv mit den Auswirkungen der Corona-Krise auf die Schulkinder, Eltern und Lehrkräfte auseinandergesetzt. Auch bei diesen Diskussionen ginge es ganz zentral um die Gerechtigkeit. Ich habe mich dafür engagiert, dass alle Massnahmen im Bildungsbereich so ausgelegt werden, dass die Chancengerechtigkeit nicht noch mehr leidet, und dass diejenigen, die weniger Chancen auf eine gute Bildung haben, nicht noch mehr benachteiligt werden. Dies betrifft insbesondere auch die digitale Bildung: Es wird zu Unrecht immer noch ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass alle Kinder zu Hause Zugang zu einer Computer-Infrastruktur haben!
Zudem gilt mein aktuelles parlamentarisches Engagement den Reinigungskräften in Privathaushalten, die keinen Zugang zu Kurzarbeitsentschädigungen haben, den KMUs, die trotz Betriebsschliessung Mietzinsen bezahlen müssen sowie den Geflüchteten, die die notwendigen Schutzmassnahmen in viel zu engen Unterkünften nicht umsetzen können.
Trotz den grossen Problemen in unserem Land dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass diese Krise eine globale Krise ist, und dass auch auf dieser Ebene die Leiden und Lasten extrem ungleich verteilt sind. Wir führen den Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit in einem der privilegiertesten Länder der Welt. Vergessen wir also nicht, dass der 1. Mai auch der Tag der internationalen Solidarität ist.
Liebe Freundinnen und Freunde, gerade jetzt ist auf breiter Front der Kampf für Solidarität und Gerechtigkeit wichtiger denn je. Der Geist des 1. Mai und die Fahne der Gerechtigkeit sollen wehen – jeden Tag noch stärker – in unseren Herzen, zu Hause, am Arbeitsplatz, auf der Strasse und überall dort, wo wir unterwegs sind. Das soll unser Motto für den 1. Mai 2020 sein.